
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich bin dem Kollegen Seefried durchaus dankbar dafür, dass er den Gesetzentwurf seiner Fraktion so sachlich eingebracht hat, bevor der Beitrag von Herrn Försterling am Ende leider vollends in Wahlkampfklamauk abgedriftet ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Wahlkampfrhetorik hat dieses wirklich ernste und wichtige Thema nicht verdient.
Ich möchte beginnen mit ein paar persönlichen Erfahrungen. Hier ist ja schon viel über persönliche Erfahrungen gesprochen worden, die in Gesprächen mit Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie mit Lehrkräften gemacht worden sind. Immer dann, wenn die Debatte auf die Förderschule Lernen kommt, denke ich einerseits an meine eigene Schulzeit, andererseits aber auch an meine berufliche Tätigkeit als Lehrkraft zurück.
In meiner eigenen Schulzeit war ich Realschüler in einem Ort in der Nähe von Braunschweig. Dort gab es drei Schulstandorte: die Realschule, damals noch die Orientierungsstufe und eine Förderschule Schwerpunkt Lernen, die hieß damals noch Sonderschule.
Sie kennen sicherlich alle aus Ihrer Schulzeit noch den Begriff der Sonderschule. Der Bus fuhr zuerst Realschule und Orientierungsstufe an, danach dann die sogenannte Sonderschule. Sie kennen das vielleicht auch, jedenfalls einige von Ihnen, dass sogenannte Sonderschüler damals – so würde man heute sagen – Stigmatisierung ausgesetzt waren. Wir haben damals gesagt, dass sie gehänselt wurden.
Das führte dazu, dass es zu einem ernst zu nehmenden Problem wurde, dass diese Schülerinnen und Schüler häufig zu spät kamen. Was war der Hintergrund? Sie sind, um nicht als sogenannte Sonderschüler erkannt zu werden, am Realschul-zentrum ausgestiegen und haben den langen Fußmarsch ans andere Ende des Ortes auf sich genommen, um zur Sonderschule zu kommen.
Das zeigt die Problematik, die sich dargestellt hat, bevor wir überhaupt an Inklusion zu denken wag-ten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin sehr froh, dass wir heute wesentliche Schritte weiter sind.
Die zweite Erfahrung aus meiner beruflichen Tätigkeit, wie ich sie hier schon immer wieder geschildert habe: Ich war Lehrer an einer Berufsbildenden Schule in Goslar in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Förderschule Schwerpunkt Lernen. Wir hatten ein Kooperationsprojekt dieser Berufsbildenden Schule Goslar-Baßgeige mit der benachbarten Pestalozzischule. Ich war über sieben Jahre hinweg einmal in der Woche an der Förderschule Schwerpunkt Lernen und hatte viel Einblick, viel Kontakt natürlich zu den Schülerinnen und Schülern, zu den Lehrkräften und hin und wieder auch zu den Eltern.
Ich habe vor allem mitbekommen, dass sich viele Eltern – gerade in umgekehrter Art und Weise – mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben, dass bei ihren Kindern sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wird und sie an dieser Schulform unterrichtet werden. Sie haben alles versucht, um eine Beschulung an einer Förderschule Schwerpunkt Lernen zu vermeiden.
Das war damals die Realität, und ich denke: Das muss man auch zur Kenntnis nehmen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich will hier überhaupt nicht diese Schulform stigmatisieren. An dieser Schulform machen die Lehrkräfte seit Jahrzehnten eine wunderbare Arbeit; unter erschwerten Bedingungen. Herr Kollege Heiner Scholing hat es schon geschildert. Diese Schule ist alles andere als ein Schonraum, das Gegenteil ist häufig der Fall.
Wenn Sie einmal an einer Förderschule Schwerpunkt Lernen hospitiert haben, dann werden Sie das mitbekommen haben. Denn die Situation sieht so aus, dass in Klassen mit bis zu 16 Schülerinnen und Schülern in der Regel eine Lehrkraft ohne Schulsozialarbeit immer die Aufgabe hatte, den Klassenunterricht und die Einzelförderung von Schülerinnen und Schülern mit ganz unterschiedlichen Hintergründen unter einen Hut zu bringen. Nicht wenige Lehrkräfte sind an dieser
Situation schier verzweifelt. Von daher ist der Wunsch der Lehrkräfte nach Erhalt dieser Schulform wirklich an vielen Orten überhaupt nicht vorhanden.
Das zu persönlichen Eindrücken, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir haben schon darüber gesprochen: Im März 2012 wurde mit großer Mehrheit in diesem Haus das Gesetz zur Umsetzung der schulischen Inklusion in Niedersachsen besprochen, damit dann zwangsläufig das Auslaufen der Förderschule Schwerpunkt Lernen im Primarbereich und – das weiß man, wenn man sich mit Schulstrukturen auskennt – damit dann auch zwangsläufig das Ende dieser Schulform perspektivisch eingeläutet. Das ist ja das, was Sie nicht wahrhaben wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition.
Seitdem gibt es zunehmend Förderschulstandorte, die keine Schülerinnen und Schüler mehr haben. Schulen werden in Förderzentren umgewandelt, zusammengelegt oder anderweitig genutzt. Wir haben in den letzten Jahren als Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker von Rot-Grün immer wieder Schulstandorte dieser Schulform besucht und unterschiedliche Reaktionen erfahren. Allerdings waren sich alle Schulleitungen und Lehrkräfte in einem Punkt einig: Der 2012 eingeleitete Prozess des Auslaufens der Förderschule Schwerpunkt Lernen ist schon aus organisatorischen Gründen unumkehrbar.
Ich will das einmal an einem Beispiel aus meiner Heimatstadt und der Region Braunschweig deutlich machen. Die geschilderte Sonderschule aus dem Beispiel meiner eigenen Schulzeit hat mittlerweile keine Schülerinnen und Schüler mehr. In Braunschweig gibt es ab dem kommenden Schuljahr nur noch eine Schule mit dem Förderschwer-punkt Lernen. Eine weitere läuft jetzt aus; sie hat nur noch 20 Schülerinnen und Schüler.
Selbst wenn der Gesetzentwurf der CDU beschlossen werden würde, würde sich daran überhaupt nichts ändern. Der Schulträger würde so verfahren, schon allein aus organisatorischen Gründen, aber auch in enger Abstimmung mit den Lehrkräften, mit den Eltern, mit Schülerinnen und Schülern. Es würde noch eine Schule für Stadt und Region Braunschweig übrigbleiben; mit 100 Schulplätzen.
Und da suggerieren Sie den Menschen im Land, Sie würden in diesem Bereich Wahlfreiheit wiederherstellen. Das ist unseriös, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Bei den vielen Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf kann es gar nicht mehr um Wahlfreiheit gehen, weil es landesweit gar nicht mehr zu machen ist. Wir haben die Schulstandorte gar nicht mehr.
Es ist Sand, was Sie den Menschen in die Augen streuen, und das macht die Unseriosität dieses Antrags deutlich, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wenn sich dann auch noch Kollege Försterling hinstellt, hier immer wieder den Elternwillen betont und sich als Gralshüter des Elternwillens und der Wahlfreiheit aufspielt, dann kann man nur sagen: Sie haben in eigener Regierungsverantwortung an ganz anderer Stelle – ich nenne als nur Stichwort die Integrierte Gesamtschule – die Wahlfreiheit der Eltern mit den Füßen getreten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Und jetzt spielen Sie sich hier in dieser Art und Weise auf.
Ich will aber noch einmal auf die Schulgesetznovelle im Jahr 2015 zurückkommen, die von Ihnen angeführt wird. Wir haben eine umfangreiche Anhörung gehabt – vielleicht können Sie sich noch gut daran erinnern; das ist ziemlich genau zwei Jahre her -, in der vor allen Dingen auch die Verbände, die die Menschen mit Behinderungen vertreten, unterschiedliche Meinungen zu den verschiedenen Förderschularten vertreten haben. Es gab die Maximalforderung der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen, Petra Wontorra, die gesagt hat: Über kurz oder lang sollten alle Förderschulen abgeschafft werden, um die totale Inklusion an Schulen durchzusetzen.
Das ist ein Diskussionspunkt. Wir haben uns diese Sichtweise nicht zu eigen gemacht.
Andere Verbände haben gesagt: Im Bereich Hören, im Bereich Sehen, im Bereich geistige Entwicklung usw. müssen die Standorte erhalten bleiben. – Das haben wir uns sehr wohl zu eigen gemacht.
Es waren sich aber fast alle in der Anhörung einig, dass das Auslaufen der Förderschule Schwerpunkt Lernen richtig ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, und zwar der Verband der Sonderpädagogen, der Landeselternrat, der Landesschülerrat, die GEW als größte Lehrervertretung, der Schulleitungsverband Niedersachsen. Sie alle waren sich in dieser Anhörung in einem Punkt einig. Und da werfen Sie uns Realitätsverlust vor und werfen uns vor, wir würden nicht mit den Menschen im Land sprechen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Das Gegenteil ist der Fall.
Die Anhörung hat eines deutlich gemacht: Es gibt unterschiedliche Sichtweisen zur Inklusion. Sie haben vorhin Reinhard Fricke zitiert. Ich glaube, Reinhard Fricke haben sich die Nackenhaare gekraust, wenn er verfolgt hat, dass er heute in dieser Debatte hier ausgerechnet von Ihnen hier zitiert wird.
Reinhard Fricke ist – ich kenne ihn gut – ein sehr erfolgreicher Schulleiter. Die Schule liegt zufälligerweise in meinem Wahlkreis. Ich war schon häufig da und schätze ihn sehr. Reinhard Fricke ist ein absoluter Befürworter des Auslaufens der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen.
Reinhard Fricke hat gesagt: „Wir brauchen keine Schulstrukturdebatte, sondern eine Qualitätsdebatte!“ Lassen Sie uns diese endlich führen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.